Vom Blicken und Bauen: Stefanie Plutas Urban Peep Show
Text zur Publikation Urban Peep Show von Konstantin Butz
Der berühmteste und berüchtigtste der Kyklopen, jener ungeheuerlichen Geschöpfe aus der griechischen Mythologie, war Polyphem, der Sohn des Poseidon. Nur durch eine List und die Blendung dieses einäugigen Riesen gelang es seinerzeit Odysseus und seinen Gefährten, sich aus der Gefangenschaft in dessen Höhle zu befreien. Diese Geschichte ist bekannt. Doch während sie vor allem die Gesetzlosigkeit des menschenfressenden Polyphem hervorkehrt, macht sie vergessen, dass das Volk der Kyklopen, neben dem äußerlichen Merkmal der Einäugigkeit, besonders für seine Baukunst bekannt war. Während die Kyklopen bei Hesiod die Blitze für Zeus schmieden, zeugen besonders die sogenannten „Kyklopischen Mauern“ von ihren Fertigkeiten als Bauarbeiter, die auch heute noch etymologisch in der Bezeichnung des Zyklopenmauerwerks (wie es eingedeutscht mit „Z“ genannt wird) nachhallen. Es beschreibt eine Bauweise, die das geschickte, fast fugenlose Stapeln verschiedener Felsbrocken beinhaltet.
Dass dieser kurze Ausflug in die griechische Mythologie den Auftakt zu einem Text liefern möchte, der sich mit der Ausstellung Urban Peep Show beschäftigt, die von der Künstlerin Stefanie Pluta im Ausstellungsraum Baustelle Schaustelle in Essen gezeigt wurde, mag zunächst anachronistisch, wenn nicht willkürlich anmuten. Urban Peep Show beschäftigt sich mit dem Ort oder, genauer, dem Phänomen der Baustelle als visueller Komponente im urbanen Raum zeitgenössischer Städte. Pluta zeigt darin Fotografien aus New York, Köln und von der Mosel. Der hellenische Einstieg liegt demnach nicht zwangsläufig nahe, speist sich allerdings direkt aus einer Beobachtung, die – ebenfalls den Einstieg bestimmend – die Besuchenden der Ausstellung gleich beim Betreten der Schauräume machen können.
Über dem Durchgang, der den Eingangsbereich in die Ausstellung bildet, hängt ein Bilderrahmen, in dem ein Auge zu sehen ist, das auf die Szenerie der Ankunft zu schauen scheint. Die nähere Betrachtung offenbart, dass es sich um einen Teil, genauer gesagt, um das herausgerissene Papierstück eines Plakates handelt. Vermutlich war hier vormals ein ganzes Gesicht, eine ganze Person zu sehen. Nun ist es nur noch ein Auge. Es ist ein einäugiger Blick, der hier angedeutet wird. Er entsteht nicht auf Augenhöhe, sondern schaut gottgleich von oben herab. Dieses Ausstellungsdetail evoziert die Assoziation mit dem Kyklopen und eröffnet dadurch einen Diskursraum, der sich hervorragend eignet, um die Arbeiten von Stefanie Pluta zu kontextualisieren und zu charakterisieren.
Klammert man für den Moment das sagenhafte Narrativ aus, das den Kyklopen ihren Ruf als ungeheure Geschöpfe andichtet, und konzentriert sich auf die darüber hinaus mit ihnen verbundenen Wesensmerkmale, so sind diese von einem besonderen – dem einäugigen – Blick und damit von einer besonderen Perspektive sowie der Fähigkeit besonderer Baukünste und dem Erschaffen besonderer Bauwerke geprägt. Kurz: Die kyklopische Assoziation impliziert einen Kontext von Blick und Bau, von Wahrnehmung und Erschaffung. Dass diese Kombination sich auch im Namen des Ausstellungsraums Baustelle Schaustelle – also einem Raum für Bauen und Schauen – spiegelt, verstärkt die Assoziationskette und greift explizit die Thematiken auf, denen Pluta in ihren Arbeiten nachspürt.
Es geht der Künstlerin darum, genau hinzuschauen. Sie entwickelt einen eigenen Blick, den sie über die Stadt streifen lässt und der an den Stellen hängen bleibt, die Unruhe in die festzementierten Strukturen urbaner Landschaften bringen. Es sind Baustellen, also Orte der Veränderung, die ihre Aufmerksamkeit erregen. Sowohl in Köln als auch in New York dokumentiert sie Orte, an denen gebaut wird. Das eigentliche Geschehen kann allerdings häufig nur erahnt werden, denn es findet hinter Planen und engmaschigen Netzen statt, die durch Gerüstkonstruktionen neugierige Blicke abschirmen. Auf dieses Moment der Verborgenheit scheint Pluta durch den Titel Urban Peep Show anzuspielen. Als Betrachter ist man versucht, über die im Verborgenen stattfindenden Geschehnisse zu sinnieren und hier einen urbanen Eros zu wittern. Die Baustelle verheißt Neues und Unbekanntes, während der sie abschirmende Sichtschutz die Neugier beflügelt wie auch den Wunsch, dahinter zu blicken. Die dadurch erzeugte Spannung wird allerdings nicht aufgelöst, sondern durch die fotografische Fixierung als Moment eingefroren.
Obwohl der Titel Urban Peep Show diese Richtung vorzugeben scheint, präsentiert Pluta ihre Beobachtungen also nicht als Teil eines reinen „Striptease“, der die vollständige Enthüllung eines sich wandelnden Stadtkörpers zum Ziel hat. Sie spielt vielmehr mit dem Moment des Verbergens, der nur andeutungsweise einen Einblick in den eigentlichen Akt des Baustellengeschehens zulässt, jedoch nicht die voyeuristische Präsentation nackter Tatsachen anvisiert. Der französische Philosoph und Semiotiker Roland Barthes hat sich nicht nur in seinen Mythen des Alltags mit dem Striptease beschäftigt. In seinem Essay Die Lust am Text beschreibt er ihn als „fortschreitende Enthüllung“, die letzten Endes mit der Hoffnung einhergeht, durch den Blick auf den nackten Körper die eigene Erregung zu befriedigen. Er stellt den Striptease dem weniger inszenierten Moment der Unterbrechung gegenüber. „[D]ie Unterbrechung ist erotisch“, erklärt Barthes und entdeckt sie zum Beispiel an Stellen freigelegter Haut, der „Haut, die zwischen zwei Kleidungsstücken glänzt“. Dieses Hervorblitzen lässt sich in Stefanie Plutas Arbeiten erahnen. Ihre Fotografien präsentieren Ausschnitte und Zwischenstadien, die immer einen Übergang oder eine Veränderung andeuten:
Es wird ein feines durchsichtiges Netz abgebildet, das, einem Theatervorhang gleich gelupft, die Sicht auf Teile einer Gerüstkonstruktion freigibt. Das Backsteinmauerwerk eines New Yorker Wohnhauses trifft auf das opake Weiß einer meterhohen Bauplane. Holzbretter verbarrikadieren die Fenster eines Hochhauses und lassen nur erahnen, dass dahinter nicht gewohnt, sondern gebaut wird. Ein Maschendraht, der sich an einem Stahlgerüst emporzieht, durchkreuzt und irritiert den Blick auf den dahinter befindlichen Betonrohbau. Das eigens dafür in einem Bauzaun installierte Guckloch gewährt die ausschnitthafte Einsicht auf den Arm eines Baggers. Entlang einer Treppe aufgestellte Bauzäune sind mit weißen Planen bespannt und so platziert, dass sie einen fortlaufenden Sichtschutz bilden.
Stefanie Plutas Arbeit ist an diesen Stellen ganz explizit von dem Zusammenspiel von Blick und Bau geprägt. Sie sensibilisiert die Betrachtenden für die vielschichtige Lebendigkeit, die in einem subkutanen Verhältnis zu den Fassaden einer Stadt steht und dort allenfalls als Unterbrechung zwischen den Teilen urbaner Räume hervorblitzt, die als „fertig“ gelten.
Auf den ersten Blick aus dieser Serie herauszufallen scheinen die Fotografie von zwei Betonsäulen, die als Stützpfeiler einer noch zu bauenden Talbrücke dienen, und die Präsentation eines Videoloops, der eine futuristisch anmutende Maschine zeigt, die ebenfalls säulengleich in den grauen Himmel ragt und durch ein an seiner Spitze vereistes Rohr Dampf ausstößt. Im Gegensatz zu den anderen Bildern ist der Blick der Betrachtenden hier nicht verstellt oder beeinträchtigt. Er trifft unmittelbar auf die Szenerie einer Baustelle, die im Falle der Brückensäulen nur dadurch als solche zu erkennen ist, dass diese Pfeiler eindeutig von der Unfertigkeit eines Bauwerks zeugen, das erst in einer zu antizipierenden Zukunft das abgebildete Tal überspannen wird. Auch wenn die gedankliche Rückbindung an den Riesen Polyphem an dieser Stelle tatsächlich die assoziative Spannkraft einer griechisch-mythologischen Deutung überdehnen würde, fällt unmittelbar das riesenhafte Wesen der Brückensäulen ins Auge. Wie Teile einer gigantischen Tempelruine dominieren sie die Tallandschaft und lassen die darunter befindlichen Wohnhäuser winzig erscheinen. In einer nahezu deiktischen Geste deuten sie in Richtung Himmel und bilden somit eine Verbindung, die den Blick der Betrachtenden zwischen dem irdischen Fundament einer menschlichen Siedlung und der himmlischen Unbegrenztheit des Firmaments in der Schwebe hält. Der Ort der Baustelle bzw. die Elemente, die ihn überhaupt als solchen markieren, erhalten somit eine skulpturale Aura, die den ästhetischen Gehalt hervorkehrt, dem die Künstlerin in ihren Fotografien nachspürt.
Auch der Blick auf den Dampf, welcher der säulenartigen Konstruktion in der von Pluta gezeigten Videoinstallation entweicht, kann zunächst im Augenblick einer rein ästhetischen Kontemplation verweilen, die das Zusammenspiel verschiedener Grautöne auf sich wirken lässt. Der verschwimmende Kontrast zwischen einer abgelassenen Dampfwolke und dem grau bewölkten Firmament greift das Verhältnis zwischen Erde und Himmel erneut auf und präsentiert es als Moment des Austarierens: Was eben noch als Teil einer Baustellenmaschine abgesondert wurde, verschwindet schon bald im wolkigen Grau der Erdatmosphäre. Wird diese Beobachtung jedoch zu einem informierten Blick erweitert, indem die Betrachtenden erfahren, dass die Aufnahmen von der Baustelle des eingestürzten Historischen Archivs der Stadt Köln stammen, so erhält die ästhetische Komponente eine ethische Dimension. An der Unglücksstelle sind nicht nur zwei Menschen ums Leben gekommen, auch ein Großteil des historisch-kulturellen Gedächtnisses der Stadt Köln wurde hier stark beschädigt oder gar vollständig zerstört. Als Arbeitsgerät an diesem Ort wird die dampfende Maschine also zur symbolischen Mahnsäule, die darauf hinweist, dass hier immer noch eine Wunde klafft. Während die Fotografien der anderen Baustellen immer die Spannung des Verborgenen in den Fokus stellen und dadurch eine fast erotische Neugierde wecken, ist der unverstellte Blick auf die Dampfwolke und das Arbeitsgerät mit der Erinnerung an eine Tragödie verknüpft. Auch wenn man das Ganze zunächst bloß als interessantes Formenspiel von Dampf und Wolken betrachten kann, integriert die Perspektivierung des informierten Blicks an dieser Stelle das Element der kritischen Nachfrage und des Innehaltens. Auf diese Weise wird deutlich, inwiefern die Orte, an denen Menschen bauen und konstruieren, immer auch Orte der Geschichte und der Geschichten sind: voller Erinnerungen, voller Schicksale und voller Potenziale.
Diese Orte, diese Baustellen, evozieren Mythen, archivieren Gedanken und schüren Erwartungen. Es hängt von dem jeweiligen Blick ab, was genau dort zu sehen ist und wie das Gesehene – zumindest für den Moment – eingeordnet wird. Stefanie Plutas Arbeiten laden dazu ein, sich diesem Blick – ganz ohne Blendung – zu stellen.
Konstantin Butz, März 2017
Die zitierten Passagen von Roland Barthes stammen aus: Die Lust am Text, Frankfurt a. M. 1990.